von Carlo Mariani (Text) und Noah Liechti (Karikatur)
Im Hintergrund läuft Jazz, es tröpfeln an diesem Freitagmorgen nur ein paar wenige ältere Leute ins Foyer herein. Dina* macht Kaffee, verkauft hin und wieder ein Ticket und weist den Kund*innen den Weg zu den Sälen in einem Zürcher Kino.
«Es kann sein, dass jemand hereinkommt, dann muss ich halt bedienen», sagt die 23-Jähri- ge, als gerade keine Besucher*innen da sind. Dina arbeitet hier neben dem ETH-Studium 60 Pro- zent. Das muss sie, denn ihre Eltern können sie nicht unterstützen und mit dem Stipendium hat es nicht wirklich klappen wollen.
Dina kommt aus ärmlichen Verhältnissen und muss nun selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Sie stellte Anfang Studium im Som- mer 2019 zum ersten Mal einen Stipendienan- trag beim Kanton Zürich. «Ich habe ein ziemlich schlechtes Verhältnis zu meinem Vater und bin darum nicht an alle nötigen Dokumente gekom- men», erzählt sie. Ihre Begründung habe dem Kanton wohl nicht gereicht, der Antrag wurde abgewiesen.
Finanzielle Nöte
«Im zweiten Studienjahr dachte ich, jetzt mach ich’s richtig.» Sie hatte gewisse Dokumente zwar immer noch nicht, rief aber an und erklär- te ihre Situation. Darauf versprach das Amt, sich ihren Antrag trotzdem anzuschauen. So schickte sie im Oktober 2020 per Einschreiben alle Unter- lagen und die sogenannte Quittung ein, eine Be- stätigung, dass alle Angaben richtig seien. Schon bald stand auf dem Online-Portal, ihr Gesuch sei in Bearbeitung. Und dann wartete sie.
Nach mehreren Monaten erkundete sie sich nach dem Stand der Dinge und dann hiess es, der Antrag sei noch immer in Bearbeitung. Sie wartete wieder und rief Ende Semester, im Som- mer 2021 nochmals an: Die Quittung sei nicht eingegangen. «Mein Antrag ist wohl einfach un- tergegangen», vermutet sie. Sie beschwerte sich telefonisch und wurde informiert, die Frist sei so- wieso schon lange vorbei, sie könne aber ein neu- es Gesuch stellen.
«Langsam geriet ich in finanzielle Nöte», erzählt sie. Deshalb habe sie dann mit dem Job im Kino angefangen. «Ich konnte es mir nicht mehr leisten, Vollzeit zu studieren.» Denn bis da- hin studierte sie regulär und arbeitete dazu bis zu 30 Prozent. Trotzdem stellte sie nochmals einen Antrag. Das war im Sommer 2021. Erst im Herbst dieses Jahres erhielt sie schliesslich den positiven Bescheid. «Es ist schön, dass es doch noch ge- klappt hat, aber ich bin jetzt halt bald mit dem Studium fertig», sagt sie.
Ein Jahr Wartezeit
Dinas Fall zeigt die grossen Mängel im kantonalen Stipendiensystem auf. Die Geschich- te beginnt mit einer Stipendienreform: Kantons- und Regierungsrat wollten das bestehende Sys tem «schlanker und transparenter» machen, wie es in einem NZZ-Artikel von 2013 steht. Als die Reform 2015 vom Kantonsrat beschlossen wur- de, titelte die gleiche Zeitung «Mehr Stipendien für Studierende». Die Rede war von mehr Bezugs- berechtigten, Vereinfachung, zügigen Verfahren, Wegfall unnötiger Bürokratie.
Doch seitdem letztes Jahr die neue Stipendienverordnung und das angepasste Bildungsge- setz in Kraft traten und die Reform offiziell ihren Abschluss fand, verlängerten sich die Wartezeiten für die Antragstellenden enorm.
Studierende müssen im Kanton Zürich momentan ein ganzes Jahr auf einen Stipendienbescheid warten. In anderen Kantonen sind es wenige Wochen bis maximal ein halbes Jahr. Ursprünglich war das Ziel, als Übergangszeit nach der Reform für dieses Jahr 70 Tage Bearbeitungs- zeit zu erreichen, ab nächstes Jahr 50. Allerdings beträgt die offizielle Bearbeitungszeit der Ge- suche in diesem Jahr Stand November durch- schnittlich 4.5 Monate. Und aktuell behandelt der Kanton noch die Gesuche, die zwischen Januar und April eingegangen sind. Deshalb warten die potenziellen Antragstellenden noch weit länger als die ohnehin schon zu lange Bearbeitungszeit.
Versprechen werden nicht gehalten
André Woodtli, Chef des Amts für Jugend und Berufsberatung, begründet auf Anfrage der ZS das Schneckentempo mit der missratenen Re- form: «Wir brauchten erstens mehr Zeit für die Umstellung als geplant und erreichten zweitens nicht die eigentlich angestrebte Bearbeitungsge- schwindigkeit pro Gesuch.» Und er gesteht, dass die Gegenmassnahmen wenig gebracht hätten: «Die Wirksamste – nämlich der Einsatz von zu- sätzlichem Personal – brauchte Zeit, ehe sie griff.» Das Amt habe seine Personalkapazitäten vor- übergehend fast verdoppelt.
Seine Chefin, Bildungsdirektorin Silvia Steiner, versprach im August in der NZZ, die Rück- stände bis Ende Jahr aufzuholen. Aber kann das bereits nach oben korrigierte Ziel einer Bearbei- tungszeit von 90 Tagen ab nächstes Jahr über- haupt noch erreicht werden? «Ja, dieses Verspre- chen kann gehalten werden», schreibt Woodtli. Doch er meint wohl nicht ab dem 1. Januar: «Wir werden in den ersten Monaten des nächsten Jah- res durch das zusätzliche Personal, den unermüd- lichen Einsatz der Stipendienabteilung und durch die Optimierung der Prozesse die angestrebte Be- arbeitungszeit pro Gesuch erreichen.»
Dass dieses Ziel erreicht werden kann, scheint einigermassen realistisch, denn die An- zahl hängiger Gesuche werde gemäss dem Amts- chef aktuell mit jeder Woche kleiner. Doch wenn der Pendenzenberg nicht schnell abgebaut wird, geht das Warten weiter.
Studis sollen sich bei der ETH melden
«Es ist eigentlich eine untragbare Situa- tion. Der Kanton ist verpflichtet Ausbildungsbei- träge zu vergeben, die Studierenden brauchen das Geld», sagt Barbara Hellermann, Leiterin Studienfinanzierung an der ETH. Derzeit springt ihre Abteilung in die Presche: «Im Prinzip fängt die ETH die fehlenden kantonalen Stipendien auf: Wenn die Gesuche eintreffen, bearbeiten wir sie, ohne dass wir die kantonalen Beiträge ken- nen – damit wenigstens unsere Stipendien an- kommen.» Doch das sei auch mit einem grossen Aufwand verbunden, denn, «wenn das kantonale Stipendium vorliegt, müssen wir alles neu berech- nen.»
Die Hochschule kennt neben Exzellenz- auch Sozialstipendien. Solche sind für Studieren- de gedacht, die ergänzend zur Unterstützung der Eltern oder zu einem kantonalen Stipendium Geld brauchen. Die ETH ist dabei grosszügiger als der Kanton und «füllt auf», falls die Stipendien nicht ausreichen. 65 Prozent des Lebenshaltungskos- ten sollen gedeckt werden. Und wer hier studiert, braucht gemäss der ETH etwa 25 000 Franken im Jahr.
Ob das Geld an der ETH wegen der aktuel- len Situation knapp werde? Hellermann verneint. Es seien etwa 35 Studierende betroffen. Sie ermu- tigt: «Studierende, die noch auf den Bescheid des Kantons Zürich warten, sollen sich unbedingt bei uns melden und einen Antrag stellen – vor allem, wenn es finanziell knapp wird.» Das gehe ganz einfach online. «Wenn Institutionen es ermögli- chen, dass diejenigen, die das Geld wirklich brau- chen, ohne Sorgen ihrem Studium nachgehen können, tut man auf eine ganze Generation hin etwas Gutes», ist Hellermann überzeugt.
Mehrere Vorstösse im Kantonsrat
Unterdessen bewegt sich in der Politik etwas. Leandra Columberg studiert an der Uni Zürich Rechtswissenschaften und sitzt für die SP und die Juso im Kantonsrat. «Silvia Steiner soll- te eine ehrliche Beurteilung der Lage vornehmen und erreichen, dass die Leute, die auf Stipendien angewiesen sind, diese auch erhalten und die An- träge binnen einer vernünftigen Frist bearbeitet werden – sicher nicht mehr als 50 Tage», fordert die 23-jährige Politikerin.
Bereits 2021 reichte ihre Partei zusammen mit den Grünen und der AL eine Interpellation ein, die von links bis rechts getragen wurde, wo- rauf Steiner sich im Januar dieses Jahres vor dem Kantonsrat erklären musste. Es folgten mehrere Medienberichte über die ewigen Wartezeiten im Kanton. Und Ende November haben einige Linke zusammen mit der EVP eine Motion eingereicht, die den Regierungsrat auffordert, «die Rechts- grundlagen für die Ausbildungsbeiträge so an- zupassen, dass die Verfahren vereinfacht und die Gesuchsbearbeitungszeit entsprechend verkürzt werden kann.» Sogar die Partei der Bildungsdi- rektorin, Die Mitte, hat zeitgleich ebenfalls eine etwas sanfter formulierte Motion eingereicht.
Hinzu kommt ein Budgetantrag von der sogenannten Fortschrittsallianz, bestehend aus linken Parteien, GLP und EVP, die im Kantonsrat eine Mehrheit halten. Sie fordert zusätzliche 2,3 Millionen für das Stipendienamt, damit das ange- strebte Ziel von 50 Tagen Bearbeitungszeit doch schon nächstes Jahr anstatt 2024 erreicht wer- den kann und die aufgestauten Gesuche schnell abgearbeitet werden können.
Das Vertrauen ist erschüttert
Bis die Politik gehandelt hat, warten die Studierenden weiter. Wie Dina, musste auch ETH-Studentin Sara* über ein Jahr auf ihren Bescheid warten. «Es war sehr hart. Ich konnte nichts unternehmen, ich musste immer aufs Geld schauen.» Und erst nach acht Monaten erhielt sie überhaupt Anrecht auf eine Erklärung für die Ver- zögerung. Sara gelangte schliesslich zur Studien- finanzierung der ETH, wo sie nach wenigen Wo- chen ein Sozialstipendium erhielt. «Da war es zum Glück nicht wie beim Kanton, wo ich gefühlt 3 000 Dokumente auftreiben musste, inklusive Geburtsurkunde.»
Obwohl beide schlussendlich ein Stipen- dium erhalten haben, scheint sowohl bei Sara als auch bei Dina das Vertrauen erschüttert. «Viel- leicht muss ich jetzt das letzte Semester auf zwei aufteilen, den finanziellen Stress kann ich nicht mehr ertragen. Dann gehe ich lieber mehr arbei- ten, damit ich mein Studium selbst finanzieren kann», sagt Sara. Dina hat bereits im Frühjahrsemester die- ses Jahres ihr Studium heruntergefahren, um öf- ters im Kino arbeiten zu können. Obwohl sie nach langer Zeit nun ein Stipendium erhalten hat, ist sie misstrauisch: «Ich möchte mich eigentlich nicht mehr darauf verlassen. Wenn ich arbeiten gehe, weiss ich, dass ich das Geld wirklich erhal- te.»
Die Filme im Kino neigen sich diesen Vor- mittag einem Ende zu, doch das Zürcher Stipen- diendebakel spielt weiter.
*Namen geändert
Carlo Mariani, 24,
studiert Politikwissenschaften und Recht an
der Universität Zürich. Er ist Co-Redaktions-
leiter der Zürcher Studierendenzeitung (ZS).