Meine Motivation für den Weg in die Schweiz war nicht die Schweiz als Land, sondern der Ruf der ETH. Vor meinem Umzug hatte ich mich nie ernsthaft gesellschaftlich mit meinem neuen Wohnland auseinandergesetzt. Ich habe unreflektiert und ignorant angenommen, dass die Unterschiede zu Deutschland nicht gigantisch sein würden und deshalb keinen Kulturschock erwartet. Doch je länger ich hier lebe, desto deutlicher erkenne ich die Unterschiede. An der ETH und im akademischen Umfeld allgemein sind diese Besonderheiten allerdings weniger ausgeprägt. Das internationale Umfeld wirkt dem Schweizer Charakter entgegen.
Sprache
Meine wohl naivste Illusion war, Schweizerdeutsch als Dialekt des Deutschen klassifiziert zu haben. Jetzt würde ich schweizerisches Hochdeutsch als Dialekt bezeichnen; Schweizerdeutsch jedoch als eigene Sprache. Die Unterschiede sind so gross, dass ich anfänglich kein Wort verstand, wenn mein Gegenüber es nicht wollte. Die Gemeinschaft und der Stolz auf die eigene Sprache und Herkunft sind beneidenswert. In Deutschland ist ein solches Bewusstsein historisch bedingt nicht stark vertreten.
Obwohl viele Wörter weiterhin wie Verniedlichungen klingen, gefällt mir der Sprachklang im Vergleich zum Hochdeutschen besser. Um ein Teil der Gesellschaft zu werden, ist Schweizerdeutsch unumgänglich.
Intoleranz gegenüber Dysfunktionalität
Sehr interessant war, dass mit dem Verlauf meines Aufenthaltes die Verspätungen der SBB zugenommen haben. Ebenso ist die Bürokratie komplizierter und der Mobilfunk unzuverlässiger geworden. Doch die Systeme haben sich eigentlich nicht verändert – stattdessen ist mein Referenzpunkt nun die Schweiz. Wenn ich mich jetzt über eine Verspätung der Bahn beschwere, geht es um Minuten und nicht Stunden. In der Schweiz kann man auf viel höherem Niveau meckern. Das hat dazu geführt, dass meine Toleranz und mein Verständnis gegenüber den dysfunktionalen Systemen in Deutschland stark abgenommen haben. Wenn ich in der Schweiz auf einem Gletscher 5G Empfang habe, wie kann man in Deutschland im überfüllten Regionalzug ohne Auskunft und Mobilfunk liegen bleiben?
Menschen
Was mir zu Beginn gut gefallen hat, war die allgemeine Ernsthaftigkeit der Menschen. Graffiti an öffentlicher Infrastruktur ist schwer zu finden, öffentliches Palaver kommt selten vor und gedrängelt wird fast nie. Doch die Stringenz isoliert. Alle leben mit sich selbst im Fokus; man möchte bloss nicht den Eindruck erwecken, die anderen wären interessant genug für die eigene Aufmerksamkeit. Dies macht es schwer, bestehende soziale Gruppen für neue Mitglieder zu öffnen. Doch gelingt es, ist das Miteinander besonders schön.
Deutschland & Schweiz
Gerade diese beiden Länder haben eine spezielle Beziehung, was man besonders auf individueller Ebene merkt. Eine besondere Erfahrung war, anderen Passanten Auskunft zur Orientierung zu geben. Antworte ich auf Hochdeutsch, schauen die sonst scheuen Leute sofort auf. Antworte ich auf Englisch, interessiert es niemanden. Dies ist natürlich sehr anekdotisch, doch es entspricht meiner allgemeinen Wahrnehmung, als Deutscher besonders aufzufallen.
Doch die Beziehung ist keinesfalls einseitig. Auch wenn es nicht direkt gesagt wird, hegen viele Deutsche das überspitzte Vorurteil der Schweiz als Land der «Schönen und Reichen». Der Ursprung ist klar: Die Straßen sind voll mit iPhones und teuren Autos. Während ausländische Produkte in der Tat relativ gesehen günstig sind, fehlt häufig die Reflexion, dass die hohen Lebenshaltungskosten das hohe Lohnniveau ausgleichen.
Dauerhaft in der Schweiz zu leben, kann ich mir bisher nicht vorstellen. Ausserhalb des akademischen Kontextes ist die Schweiz als Ausländer funktional, aber nicht einladend. Doch sobald man Schweizerdeutsch lernt, ist man verbundener und kann sich wahrscheinlich viel schneller integrieren.
Disclaimer: Dieser Artikel ist keine Positionierung des Polykums oder des VSETH. Es entspricht der persönlichen Wahrnehmung des Autors und soll Anreiz sein, sich mit internationalen gesellschaftlichen Unterschieden auseinanderzusetzen.