Lesen als Gefahr
Wie jedem Medium stand man vor der allgemeinen Alphabetisierung auch dem Lesen kritisch gegenüber. In der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts war man kritisch gegenüber einer Verbreitung von Wissen und der Vervielfältigung von «kritischem» Gedankengut mittels Bücher. So glaubte man insbesondere Frauen und Kinder vor der «Gefahr» des Lesens schützen zu müssen, da beide Gruppen gleichermassen als empfindsam und leicht beeinflussbar galten. Dem Schulsystem, welches in dieser Zeit vom System des Auswendiglernens und Rezitieren von Inhalten abzukommen versuchte, indem es kritische Lektüre in den Vordergrund stellte, wurde Widerwillen entgegengebracht. Auch bei anderen Bevölkerungsgruppen – Bauern – wurde die Fähigkeit zu lesen entweder für unnötig befunden oder sogar als kontraproduktiv dargestellt. Doch nirgends war der Widerwille, über so lange Zeit, so laut, wie bei Frauen.
Lesewut statt Leselust
Wurde das Lesen und die Bildung von den Frauen zunächst gefördert, wurde die Leselust der Frauen bald kritisiert und vor der Lesesucht der Frauen um 1800. Man warnte von zu sehr gebildeten Frauen, welche sich durch Lektüre derart bildeten und unterhielten, dass sie bald als lesewütig bezeichnet wurden. «[I]n der Regel wurde vor lesenden Frauen gewarnt, weil in ihrem Kopf etwas passierte, das nicht zu den dominanten Lebensplänen passte, die andere für sie machten. Lesen stellt nicht nur Lebensentwürfe in Frage, sondern auch Vorgaben höherer Instanzen wie Gott, Gatte, Regierung, [und] Kirche.[…] alles Unkontrollierbare macht Angst. Gerade die, die unkontrollierbare Macht ausüben (Gott, Gatte, Regierung, Kirche!), wissen das» (Bollmann:19).
Lesende Frauen wurden als gefährlich und vermeintlich unzähmbar dargestellt. Um diesem ungezügelten Leseverhalten entgegenzuwirken und diese «von Lesesucht betroffenen Frauen» zu kontrollieren, wurden in Zeitschrifen Kanons veröffentlicht. Versorger und Erzieher formulierten darin Bedenken und Empfehlungen, «damit die Frauen, deren überbordernde Einbildungskraft hingänglich bekannt ist, nicht infolge verderblicher Leselust sich selbst und ihre Männer gefährden» (Bollmann: 30). Diese Bändigung verlief jedoch nicht sehr erfolgreich. Dass weibliches Schreiben ohne männliches Pseudonym vor diesem kulturellen Hintergrund überhaupt knapp 100 Jahre später möglich war, scheint fast unglaublich. Noch erstaunlicher: Der erste Bestseller des S. Fischer Verlags wurde 1895 von einer Frau geschrieben.
Aus guter Familie
1895 erschien Gabriele Reuters Bestseller Aus guter Familie im S. Fischer Verlag. Als Teil der Strömung der Naturalist*innen bestand für sie «die Vollendung der Literatur in der möglichst exakten Wiedergabe ihrer Umgebung» (Höfer: 2022). Bezeichnend, da in ihrer Leidensgeschichte eines Mädchens die intelligente Agathe an den starren Frauenrollenvorgaben zerbricht und als «alte Jungfer», mit nicht einmal 30 Jahren, in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird. Diagnose: Neurasthenie. Heute würde dies einem chronischen Erschöpfungszustand entsprechen. Damit spiegelt Reuter als intelligente Frau in ihrem
Roman wie perfide insbesondere die männlichen Figuren – mit Abstand aber der Vater – ihr den Weg zu Wissen und Bildung immer wieder abwürgen, verwehren oder in einer Art Hütchen-Spiel in einer Tauschtaktik das an dem interessierte entreissen, dafür etwas «Geeigneteres» bereitstellen.
Reuter beschreibt eine Welt, in der sich gebildete Frauen immer wieder in einer Pattsituation sehen. Sie schreibt gegen eine Welt an, welche sie nicht als Erfolgsautorin sehen wollte. Unter dem Begriff des blaustrumpfartigen Dilletantismus versuchten Federführer gelehrte und geistig arbeitende Frauen herabzuwürdigen, ja gar diesen Frauen ihre Weiblich keit im Sinne der bürgerlichen Ideale der mütterlichen
Kompetenzen abzusprechen (Höfer). Immer wieder wurde dabei gleichzeitig die «männliche Stärke der neuen Literaturbewegung» betont.
Ironie: Dem zeitgenössischen Publikum war Aus guter Familie wohl eher bekannt als Theodor Fontanes Effi Briest.
Tragik: Effi Briest ist Teil des Matur-Kurrikulum während Aus guter Familie vergleichsweise in Vergessenheit geraten ist, obwohl Reuters Bestseller bis 1931 28 Neuauflagen erlebt hatte.
Gekoppelt: Intelligenz und Instabilität
Disproportional werden selbst heute in Büchern, Filmen und Serien intelligente Frauen als psychisch labiler kodiert. Immer ringend, entweder sind sie motiviert durch Trauma (Jessica Jones), leiden an einer psychischen Erkrankung, wie beispielsweise Carrie Matheson(Homeland), welche ihre bipolare Störung aktiv geheimhalten muss, um ihre Sicherheitsfreigaben zu behalten (CIA) und sich heimlich behandeln lassen muss, oder wie Beth Harmon (The Queens Gambit) welche sich mit Alkohol und Tabletten betäubt und so schier ihre grosse Chance verpasst im Schachturnier den russischen Grossmeister zu besiegen. Weibliche Hauptfiguren scheint ihre Intelligenz immer etwas zu kosten. Ist es nicht ihre psychische Stabilität, so ist es ihre Weiblichkeit. Eine Frau, welche in einer Machtposition dargestellt wird, wird weiter über ihre «maskulin» konnotierten Eigenschaften charakterisiert. Im Fall von Carrie Mathison bis hin zu ihrer Musikwahl. Gemäss Mary Beard haben wir kein «template for what a powerful woman looks like, except that she looks rather like a man» (Women & Power).
Mädchen – noch pures intellektuelles Potential
Intelligenz in der Darstellung von Frauen wird selten als reines Potential dargestellt. Wird es jedoch als solches dargestellt, sind es oft «Mädchen», wie Hermine Granger (Harry Potter), Rory Gilmore (Gilmore Girls) und Lisa Simpson (The Simpsons), welche als Leuchtfeuer weiblicher Intelligenz und Zielstrebigkeit Millionen inspirierten und noch inspirieren. Jedoch haben sie als Figuren noch nicht diese Kluft zum «Frausein» überschritten, sind noch nicht an den widersprüch lichen gesellschaftsansprüchen gescheitert, noch nicht pathalogisiert worden. So stellt sich die Frage: Wo verliert sich genau dieses Potential?
Leseempfehlungen:
Mary Beard: Women & Power, 2018.
Stefan Bollmann: Frauen die lesen, sind gefährlich.
München: Sandmann, 2005.
Mirijam Höfner: Gabriele Reuter für addf-kassel.de
Laura Paul: Lesewut, Lesesucht und gefährliche Ro-
mane (lesen-in-deutschland.de).
Gabriele Reuter: Aus guter Familie, 1895.
Vanessa Casertano, studiert Germanistik und Mediävistik an der UZH