Was ist Wahrheit für euch? Die Nachrichten der grossen Medienhäuser, die als Kind gehörten Erklärungen, die Erzählungen von Freund*innen, …? Wahrheit ist nicht immer so binär, wie wir es gerne hätten. Unsere Autorin macht sich auf die Suche nach «der» Wahrheit.
Historisch ist Wahrheit in unserer Kultur als schwarz und weiss angelegt. Zuerst die Kirche mit ihren Definitionen von Gut und Böse, dann die Aufklärung, in der eine objektive, rationale Sicht auf die Dinge ins Zentrum gerückt wurde. So sprachen sich viele Aufklärer mit verschiedener Härte gegen Lügen aus. «Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein», meinte zum Beispiel Kant, der glaubte, jede noch so kleine (Not-)Lüge könne die gesamte Gesellschaft zerstören. Heutige Studien gehen davon aus, dass jeder Mensch etwa 25 bis 100 Mal am Tag lügt. Trotzdem hängt unsere Gesellschaft zwar politisch schief in den Angeln, ist aber noch nicht zerstört.
Entwicklung von Wahrheit und Lüge
Dabei ist es wohl erst die Gesellschaft, die uns zum Lügen bringt. Kinder können bis zum Alter von vier bis fünf Jahren nicht bewusst lügen. Sie gehen davon aus, dass ihr Gegenüber genau dasselbe weiss wie sie selbst, wodurch zu lügen keinen Sinn hätte. Erst mit dem Älterwerden wird einem klar, dass Wahrheiten andere Menschen auch verletzen können. Man lobt die Linzertorte der Grossmutter und verschweigt, dass ihr diese Woche der Teig viel zu hart geraten ist.
Wo Wahrheit verloren geht
Spannend sind in diesem Kontext auch Eltern-Kind-Beziehungen, die auf beiden Seiten Lügen hervorrufen, um Konflikte zu entschärfen oder zu vermeiden. Die meisten kennen die Aufforderungen: «Wenn du nicht aufisst, gibt’s morgen schlechtes Wetter!» Oder: «Iss die Karotten, sie sind gut für die Augen!»
Ersteres ist eine leichter zu enttarnende Falschaussage, die auf einen Fehler zurückzuführen ist. Der niederdeutsche Ausdruck «Et dien Töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder!» (nhd. «Esse deinen Teller leer, dann gibt es morgen wieder was Gutes!») wurde von den Gebrüdern Grimm als «Die Speise auf dem Tisch rein aufgegessen, gibt den andern Tag gut Wetter» verbreitet.
Dass Karotten die Sehkraft verbessern, macht auf den ersten Blick schon mehr Sinn. Schliesslich kann ein Mangel an Vitamin A tatsächlich zu Nachtblindheit führen und Karotten enthalten Betacarotin, das (wenn auch eher ineffizient) zu Vitamin A verstoffwechselt wird. Allerdings liegt in Europa kaum ein Mangel an diesem Vitamin vor. Der Mythos stammt vermutlich aus dem zweiten Weltkrieg, als britische Ministerien behaupteten, die Air-Force-Pilot*innen würden viele Karotten essen, besser sehen und so besser treffen. Der wahre Beweggrund dahinter: den Einsatz neuer Radartechnologie zu verschleiern und die Bevölkerung zu animieren, lokale Nahrungsmittel zu essen.
Wahrheit ist also irgendwie eine Definitionssache und nie so richtig in Stein gemeisselt. Während man sich in Politik und Wissenschaft möglichst viel Wahrheit wünscht, vereinfachen die harmloseren Spielarten der Lügen den Alltag oder sind im Nachhinein doch zumindest amüsant.