Ein Ort, an dem sich Hochbegabte treffen und austauschen können, ist Mensa. Sollte Mensa ursprünglich die Gesellschaft um einen runden Tisch bezeichnen (mensa: lateinisch Tisch), hat sich die Gesellschaft als Netzwerk für Hochbegabte etabliert. Eintrittskarte: ein Intelligenztest. Wenn aus diesem hervorgeht, dass man zu den oberen 2% zählt und damit einen IQ von über 130 besitzt, darf man beitreten. In der Schweiz gibt es über 1800 Mitglieder. Dr. Corina Rohen, Ressortleitung Wissenschaft und Forschung von Mensa in Deutschland, beantwortet im Interview Fragen rund um Hochbegabung. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Universitätslektorin im naturwissenschaftlich-technischen Sachunterricht an der Universität Bremen. Nach einer Promotion und Forschungen im Bereich der Tumorgenetik wechselte sie zu den Bildungswissenschaften, wo ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in der frühen naturwissenschaftlichen Bildung sowie im Bereich des Umgangs mit Heterogenität liegen. Seit mehreren Jahren arbeitet sie zu Begabungsförderung und Hochbegabung sowie zum Anfangsunterricht. Bei Mensa in Deutschland ist sie seit 2005 Mitglied, leitet dort das Ressort Wissenschaft & Forschung und ist zudem im Bereich Bildung und in der Kinder- und Jugendarbeit tätig.
A&N: Bestimmte Fähigkeiten der Intelligenz wie die emotionale Intelligenz werden von Intelligenztests nicht erfasst. Denken Sie, dass diese Aspekte eine nebensächliche Rolle bei Hochbegabung spielen?
R: Emotionale Intelligenz ist nicht mit dem Begriff der kognitiven Intelligenz vergleichbar und wird in einem klassischem Intelligenztest nicht erfasst, bei dem Fähigkeiten wie Sprachverständnis, wahrnehmungsgebundenes logisches Denken, Arbeitsgedächtnis oder Verarbeitungsgeschwindigkeit getestet werden. Wenn die «emotionale Intelligenz» im Sinne einer «sozialen Intelligenz» verstanden wird, also wie sich Menschen in sozialen Interaktionen verhalten, so existieren für Hochbegabte keine besonderen Abweichungen im Vergleich zu einer durchschnittlichen Person.
A&N: Welche Erkenntnisse gibt es aus der Hirnforschung zur Hochbegabung?
R: In der Hirnforschung wird mit Hilfe verschiedener Methoden untersucht, inwieweit verschiedene Hirnareale mit der Intelligenz zusammenhängen. Untersuchungen zur Grösse des Gehirns zeigen nur einen moderaten Einfluss des Hirnvolumens auf die Intelligenz. Ein anderer Ansatz untersucht die Rolle der Konnektivität, also der Verbindungen verschiedener Hirnareale miteinander. Ergebnisse zeigen keinen Zusammenhang zwischen der Gesamteffektivität der neuronalen Netzwerke innerhalb des Gehirns und der Intelligenz, aber bestimmte Hirnregionen sind bei Hochbegabten aktiver und agieren mehr miteinander. Somit gibt es kein eigentliches Zentrum für Intelligenz im Gehirn, sondern bestimmte Regionen, die stärker daran beteiligt sind als andere. Die Untersuchungen zur neuronalen Effizienz lassen die Vermutung zu, dass das Gehirn von überdurchschnittlich intelligenten Menschen effizienter arbeitet.
A&N: Was sind Beispiele dafür, wie die Umwelt die Intelligenz beeinflusst?
R: Begabung ist das Resultat eines Wechselspiels zwischen Erbgut und Umwelt, was bedeutet, dass genetische Anlagen durchaus eine Rolle spielen, wobei es nach heutigem Stand der Wissenschaft kein «Intelligenzgen» gibt. Gängige multifaktorielle Modelle zur Hochbegabung beschreiben zahlreiche Faktoren, die an der Umsetzung von Begabung in Leistung beteiligt sein können. Dazu zählen neben den Erbanlagen auch Persönlichkeitsfaktoren wie Motivation und Stressbewältigung. Auch das Umfeld mit Familie, Freund*innen oder dem Klassenklima spielt eine Rolle. Wenn eine anregende und unterstützende Umgebung mit entsprechender Förderung fehlt, können selbst herausragende Begabungen verkümmern.
A&N: Wie kann das Bildungssystem auf die Bedürfnisse hochbegabter Schülerinnen und Schüler eingehen, damit diese ihr volles Potenzial entfalten können?
R: In der Begabtenförderung existieren verschiedene Förderungsprinzipien:
- Grouping: Hier werden Schüler:innen in fähigkeitshomogenen Gruppen zusammengefasst, beispielsweise in Internaten oder Pull-out-Projekten, bei denen die Schüler*innen zeitweise ihre Stammklasse verlassen, um mit anderen Hochbegabten an Projekten zu arbeiten.
- Akzeleration: Dies bezeichnet die Schullaufbahn verkürzende Massnahmen, wie frühere Einschulung oder das Überspringen von Klassenstufen.
- Enrichment: Der Lernstoff wird ergänzt, durch Projekte in Arbeitsgemeinschaften, Wettbewerbe, oder Angebote wie der Digitalen Drehtür (https://www. digitale-drehtuer-campus.de/explore).
Weitere Fördermassnahmen können auch über ausserschulische Programme, die die Bezugspersonen organisieren, ermöglicht werden (z.B. Sport, Musik, MINT-Angebote).
Meist handelt es sich um separierende Massnahmen, bei denen die Kinder ausserhalb ihrer Stammklasse gefördert werden. Im Idealfall eines inklusiven Unterrichts sollte dies unnötig werden, wenn alle Schüler*innen entsprechend ihrer Begabung gefördert werden und in ihrer Stammklasse bleiben können. Bei der Begabtenförderung geht es aber nicht darum, sich für einen Königsweg zu entscheiden. Hochbegabte sind genauso divers wie alle anderen und die Förderung sollte auf ihre individuelle Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden.
A&N: Inwiefern korreliert Intelligenz mit Erfolg im Leben, sowohl persönlich als auch beruflich?
R: Eine hohe intellektuelle Begabung geht nach mehreren Langzeitstudien mit höheren akademischen Leistungen und Berufserfolg einher. Die klassische «Hochbegabtenkarriere» oder typische Berufe für Hochbegabte gibt es aber nicht. Allerdings sind Berufe, die abwechslungsreich und herausfordernd sind sowie einen hohen Grad an Selbstbestimmtheit ermöglichen, oftmals attraktiv. Wenn sich dies beruflich nicht erfüllen lässt, wird das mitunter durch entsprechende Interessen in der Freizeit kompensiert.
A&N: Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie dazu inspiriert, sich im Bereich der Hochbegabung zu engagieren?
R: Da ich selbst hochbegabt bin, interessiere ich mich aus persönlicher Motivation für das Thema und weiss, was es bedeutet, wenn Hochbegabung in der Schule nicht erkannt wird und welche Folgen das nach sich ziehen kann. Daher ist es mir wichtig, im Rahmen meiner Tätigkeit in der Ausbildung von Lehrpersonen an der Universität Bremen Hochbegabung zu thematisieren. Bei Mensa in Deutschland leite ich zudem das Ressort «Wissenschaft & Forschung». Neben diversen Forschungsarbeiten zu Hochbegabung und Intelligenz bereiten wir im Ressort eine Fortbildungsreihe nicht nur für unsere aktiven Mitglieder, sondern auch für Lehrkräfte vor.
A&N: Wie haben Sie bemerkt, dass Sie hochbegabt sind?
R: Ich selbst habe es lange nicht bemerkt. In der Retrospektive gab es verschiedene Hinweise, die unspezifisch sein, aber auch auf eine Hochbegabung hinweisen können. Gemäss meiner Pflegemutter habe ich, nachdem ich früh angefangen habe zu sprechen, viele Fragen gestellt und war sehr neugierig. Ich habe darauf bestanden, mit fünf Jahren eingeschult zu werden, weil ich schon ganz gut lesen konnte. Die Schulzeit war bis zur sechsten Klasse okay, ich habe aber fast nie gelernt, was dann auf der Oberstufe problematisch wurde, da ich nicht wusste, wie man lernt. Entsprechend waren meine Noten eher schlecht, die Kurve habe ich erst wieder im Gymnasium gekriegt, vielleicht auch, weil ich dort den Lernstoff interessanter fand. Ich hatte das Glück, dass zwei nette Lehrkräfte, die trotz meiner schlechten Noten Potenzial bei mir sahen, mich unterstützten, auch wegen meines bildungsfernen Hintergrunds. Der Begriff Hochbegabung fiel dabei aber nie. Neben der Schule habe ich mich eigenständig mit Astronomie und Vulkanismus befasst habe. Im Studium wurde ich dann für ein Begabförderungsprogramm vorgeschlagen. Ich machte meinen Studienabschluss drei Semester schneller als die Regelzeit und gehörte zu den Jahrgangsbesten. Ich habe das aber nie mit Hochbegabung in Zusammenhang gebracht. Ich kann mich nicht erinnern, ob mir der Begriff «Hochbegabung» damals überhaupt schon bekannt war.
Der erste richtige Kontakt mit dem Thema Hochbegabung erfolgte im Zusammenhang mit meinen Kindern. Meine beiden Zwillingsmädchen sprachen auch früh und stellten viele Fragen. Das fand ich normal, aber eine Erzieherin im Kindergarten fand es aussergewöhnlich und drückte mir einen Flyer von Mensa in die Hand. Ich habe dann angefangen, Literatur über Hochbegabung zu lesen und fand mich selbst in vielen Beschreibungen wieder. Als meine Töchter einige Jahre darauf auf eine Hochbegabung getestet wurden, habe ich den Test ebenfalls gemacht und wir wurden alle drei bei Mensa Deutschland aufgenommen. Auch bei meinem jüngeren Sohn wurde später eine Hochbegabung festgestellt.
A&N: Wie unterscheidet sich ihre Arbeitsweise von der anderer?
R: Ich glaube, Hochbegabte freuen sich insgesamt mehr über herausfordernde, interessenorientierte Aufgaben und über Möglichkeiten, möglichst selbstbestimmt und flexibel arbeiten zu können.
A&N: Gibt es Vor- und Nachteile einer Hochbegabung?
R: Im Zusammenhang mit Hochbegabung existieren verschiedene Vorurteile und Mythen. Subjektive Vorstellungen zu Hochbegabung entstehen möglicherweise auch als Folge von Dokumentationen in den Medien, in denen hochbegabten Kindern per se herausragende Leistungen zugesprochen werden. Da geht es um virtuose Pianist*innen oder mathematische Rechengenies. Dies kann zu einem verzerrten Bild des Zusammenhangs zwischen Hochleistung und Hochbegabung führen, das oft nicht der Realität entspricht. Im schulischen Zusammenhang ist es dann problematisch, wenn Lehrkräfte Hochbegabte nur über entsprechend gute Noten identifizieren und «Underachiever» (Hochbegabte, die deutlich unter ihrem Leistungspotenzial bleiben) durch das Raster fallen. Natürlich können Noten ein Hinweis auf eine hohe Begabung sein, aber es ist kein verlässliches Merkmal. Es existieren zahlreiche Ratgeber für Eltern mit Checklisten, in denen verschiedene Merkmale oder Merkmalskombinationen einen Hinweis auf Hochbegabung geben sollen. Leider sind darunter viele Merkmale, die in Studien bisher nicht bestätigt werden konnten wie, dass hochbegabte Kinder weniger Schlaf brauchen, lieber mit älteren Kindern spielen oder bereits vor der Einschulung lesen können. Weitere subjekte Hinweise können Neugier, Wissensdurst oder eine besondere «Fragehaltung» sein bei der nicht nur viel, sondern auch komplex gefragt und dementsprechende Antworten auf hohem Niveau erwartet werden. Routineaufgaben können schnell langweilen, Herausforderungen dagegen fesseln. Diese Merkmale können ein Hinweis sein, sind aber nicht zuverlässig, da zurückhaltende Kinder oder solche aus einem bildungsfernen Umfeld entsprechende Verhaltensweisen möglicherweise nicht zeigen. Im Beruf können diese Stereotypen weiterhin eine Rolle spielen, etwa wenn erwartet wird, dass Hochbegabte immer gute Leistungen erzielen. Eine hohe Intelligenz stellt zwar eine gute Voraussetzung dafür dar, ist aber nur ein Potenzial für herausragende Leistungen und keine Garantie. Der Mythos, Hochbegabte seien im Sinne der «Genie-Verrücktheits-Korrelation» psychisch instabiler als die normalbegabte Vergleichsgruppe, ist im Rahmen verschiedener Studien widerlegt worden. Es existiert keine besondere Häufung sozialer oder psychischer Probleme bei Hochbegabten, es werden vielmehr Probleme einzelner auf die Gesamtgruppe der Hochbegabten übertragen.
A&N: Sind intelligente Menschen Ihrer Erfahrung nach glücklicher?
R: Dazu müsste zunächst definiert werden, was Glück bedeutet, daher ist diese Frage schwierig zu beantworten. Ergebnisse aus Studien zur Lebenszufriedenheit und zum Wohlbefinden sind indifferent: manche stellen keinen Unterschied zwischen Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten fest, andere wiederum sehen Differenzen. Es gibt Hinweise, dass ein hoher IQ mit beruflichem Erfolg, höherer Lebenserwartung und körperlicher Gesundheit einhergeht, was zur Lebenszufriedenheit beitragen kann. Ansonsten sind Hochbegabte so divers wie alle anderen Menschen, weshalb es unter den Hochbegabten auch die ganze Bandbreite an zufriedenen und weniger zufriedenen Menschen gibt.
Alyssa Moody (20) und Neringa Meskauskaité (21) Bsc Biologie. Leider beide (noch) nicht als hochbegabt diagnostiziert.