Sämtliche Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die Stadtflucht hat eingesetzt und die gemeinen Städter*innen suchen heutzutage Zuflucht in der Natur. Verständlich, wir leben in einer schnelllebigen Welt: Die Hälfte der Zürcher Bevölkerung scheint beruflich irgendwas mit Artificial Intelligence zu tun zu haben. Und der Rest? Der pflegt auf ir- gendeiner Internetplattform ein Profil, das mehr Virtual Reality als von der Natur gesegnet ist. Kein Wunder also, dass wir uns nach den einfachen, ur- sprünglichen Dingen sehnen.
Ruhe und Einklang
Aber wieso genau rennen jetzt eigentlich alle bei jeder Gelegenheit raus in die vermeintliche Natur? Als Begründung höre ich immer wie- der, dass man Ruhe sucht, am besten noch den Einklang mit sich selbst. Mal abgesehen von dem leicht esoterischen Beiklang, müsste einem von Natur aus mit Verstand gesegneten Menschen doch klar sein: Wenn sämtliche Leute die Stadt verlassen, ist es am vermeintlichen Zufluchtsort sicher nicht mehr ganz so ruhig. Erst stehen alle im Stau vor dem Gotthard und dann tummeln sich die ach so CO2-neutralen VW-Busse auf irgendwelchen Naturcampingplätzen. Umweltverträglicher Naturtourismus, versteht sich.
Mein Freund, der Baum
Der Mensch hat ja oft die Angewohnheit, mit seiner Liebe das Objekt seiner Begierde zu er- drücken. Scheint hier auch der Fall zu sein – bei so vielen Bussen wächst hinterher sicher kein Gras mehr. Und die armen Bäume können sich gegen die vielen Umarmungen auch kaum zur Wehr setzen – aber was tut man nicht alles als Baum für seine Likes auf Instagram (#LovingNature #Naturkind #MeinFreundderBaum).
Naturfreund*innen unter sich
In diesem Zusammenhang habe ich letztens das Zitat einer Instagrammerin gelesen:
«Nichts ist härtere Arbeit als Natürlichkeit.» Wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt, wurde mir kürzlich bewusst: Da schlenderte ich völlig arglos durch die Räumlichkeiten eines bekannten Vertreibers von Outdoorequipment. Man glaubt es kaum, aber diese Natur ist offenbar ein sehr lebensfeindlicher Ort – zumindest der Menge an Dingen nach zu urteilen, die man anscheinend für so einen Trip raus in die Natur benötigt – und wir reden hier nicht von einer Himalaya-Expedition, sondern von einem mitteleuropäischen Campingplatz. Vom multi- funktionalen Campinggeschirr übers Luxusmätteli zur Outdoorhose mit Fuchsemblem, der Absatz- markt scheint grenzenlos. Und das alles natürlich komplett nachhaltig produziert. Überhaupt war mir nicht bewusst, dass es für Naturfreund*innen offenbar eine bestimmte Uniform gibt: ähnlich wie die der Outdoorsportler*innen, allerdings weniger farbenfroh. Die Farbpalette: beige, oliv, braun, aufgepeppt höchstens mit einer Spur senfgelb oder weinrot. Die Zeiten, als man zum Zelten seine alte Jogginghose mitnahm, sind scheinbar vorbei – vorausgesetzt, man will sich nicht als Amateur*in outen … Der Club der Naturfreund*innen er- kennt sich nun schon von Weitem gegenseitig und man diskutiert mit Leidenschaft über die Wassersäule seiner Funktionsunterhose. So ein natürlicher Lebensstil hat also nicht nur mit sehr viel Arbeit zu tun, sondern ist auch mit enormen Kosten verbunden. Deshalb bin ich dazu übergegangen, die Stadt nun als meinen natürlichen Lebensraum zu betrachten. Und weil alle über die Feiertage das Weite suchen, hat man hier mittlerweile sogar an Ostern herrlich seine Ruhe.
Julia Kamml, 32, hat früher gerne Zeit in der Natur verbracht. Nachdem diese aber von einer VW-Bus-Schwemme überflutet wurde, sucht sie nun Zuflucht im Zürcher Rieterpark.