Meine Karriere als Ladendieb begann während des Gymnasiums. Ich wollte zwei Passionsfrüchte kau- fen, hatte aber vergessen, diese zu wägen. Hinter mir an der Kasse hatte sich eine lange Schlange gebildet. Die Verkäuferin liess mich meine anderen Einkäufe bezahlen und drückte mir die Früchte in die Hand. «Geh die wägen und steh nochmal an, ich kann jetzt nicht warten.» Ich lief Richtung Aus- gang. Und zögerte. Die Aussicht, nochmal durch den ganzen Laden zu gehen und dann zehn Minu- ten anzustehen, gefiel mir nicht sonderlich. Ausser- dem warteten meine Kolleg*innen vor dem Laden und wurden langsam ungeduldig. Kurzerhand ver- liess ich das Geschäft, ohne die Passionsfrüchte zu bezahlen. Als ich meinen Mitschüler*innen davon erzählte, stellte sich heraus, dass Klauen in mei- ner Klasse sehr verbreitet war. Wir redeten nicht darüber, aber die meisten machten es. Geld war definitiv nicht das Problem, wir bekamen alle ge- nügend Essensgeld von unseren Eltern. Es war pure Langeweile, wir gingen vier Jahre aufs Gymnasium und pilgerten praktisch jeden Mittag in die gleiche Quartier-Migros.
Fast die Hälfte aller Schweizer*innen hat schon einmal gestohlen.
‹Vergesslichkeit› und ‹Etikettenschwindel›
Seither lasse ich immer mal wieder etwas Kleineres im Supermarkt mitlaufen. Mit den Selbst- bedienungskassen wurde es noch einfacher. Der Begriff impliziert ja schon, dass man sich bedienen kann, hehe. Der finanzielle Anreiz ist klein, es geht mehr darum, den Einkauf zu einem Abenteuer zu machen. Langweilige Routinen werden aufgebro- chen, man muss plötzlich bei der Sache sein. Dabei bieten sich diverse Strategien an. Einen Apfel ab- zuwägen und dann ein teureres Produkt mit dem Label zu versehen und für 70 Rappen zu kaufen, ist eine sehr elegante Methode. Einfach ‹vergessen›, ein Produkt zu scannen, ist etwas plump, funktio- niert aber auch gut. Am niederschwelligsten ist der ‹Etikettenschwindel›. Dabei kauft man die edelsten Sélection-Früchte und klebt das Label der billigen Variante drauf. Das ist tubelisicher, die*der Laden- detektiv*in oder das Verkaufspersonal müssten schon Argus-Augen haben, um das Manöver zu entdecken.
Nervenkitzel oder politischer Aktivismus
Klauen scheint in der Schweiz ein Volkssport zu sein. Obwohl es praktisch niemand offen zugibt, haben laut einer Befragung im Jahr 2019 die Hälfte der Schweizer*innen schon einmal gestohlen. Wie- viel finanzieller Schaden dabei entsteht, ist unklar, die Grossverteiler wollen keine Zahlen nennen.
Neben dem Nervenkitzel gibt es auch die Fraktion der politischen Ladendieb*innen. Diese argumentieren, dass es legitim sei, Grosskonzerne zu beklauen, die tiefe Löhne zahlen und jedes Jahr fette Gewinne einstreichen. Die Aktion «Deutsch- land geht klauen» ruft dazu auf, grosse Super- märkte zu bestehlen. Das gesparte Geld wird dann an Gewerkschaften im globalen Süden gespendet. Ich denke, dass es effektivere Formen der politischen Teilhabe gibt, allein schon, weil die meisten zu brav sind, um etwas mitlaufen zu las- sen. Aber ein schlechtes Gewissen habe ich defini- tiv nicht, wenn ich die Migros oder den Coop um einen winzigen Teil ihres Umsatzes erleichtere.
Der Kleptomane
Silas Schweizer, 26,
studiert Umweltnaturwissenschaften im Master und hat einige Zeit als Ladendetektiv gearbeitet. Einer seiner damaligen ‹Stammgäste› war bereit, ihm für ein Kurzportrait Rede und Antwort zu stehen.