von Julia Kamml
Nackt – klingt immer etwas anstössig, nicht kindgerecht, gefährlich: sich nackt ma chen, das nackte Überleben, die nackte Angst. Wie viel Angst haben wir ei gentlich heutzutage noch, uns nackt zu machen, wieso ist das so, und vor wem oder was fürchten wir uns da genau – eine persönliche Analyse.
«Gestern lief eine Gruppe nackter Menschen durch Zürich!»
Du hörst, dass jemand nackt war und sofort erwartest du, dass eine Botschaft mittransportiert wird – anstössig, peinlich, demütigend, politisch, erregend, gefährlich.
Nacktheit – irgendwas scheint es damit auf sich zu haben, dass ein Mensch rumläuft, wie von Gott oder vielmehr der Natur geschaffen. In unserer Gesellschaft ist der entblösste Körper fast nie neutral, nie wird er einfach als das angesehen, für was man ihn halten könnte: ein funktionales Stück Fleisch, das uns durch den Alltag trägt. Die einen kichern, die anderen versuchen cool rüberzukommen, weil es sie anscheinend nicht kümmert, wer wie rumläuft. Letzten Endes aber drücken wir immer etwas damit aus, wie weit wir unseren Körper bedecken. Und auch: vor wem wir ihn wie bedecken oder eben auch nicht.
Wie Gott uns schuf?
Man könnte jetzt damit argumen tieren, dass das alles kulturelle Färbung ist, dass die meisten Gesellschaften stark von religiösen Wertvorstellungen geprägt sind. Brain washing à la Bibel, Tora, Koran und wie sie alle heissen. Zum Teil stimmt das wohl auch. In «Hundert Jahre Einsamkeit» von García Marquéz beklagt sich ein Mann, dass er seine Frau noch nie nackt gesehen hat, obwohl er mehrere Kinder mit ihr hat. Der Geschlechtsakt wurde also vollzogen, ermöglicht durch einen Schlitz im hübsch bestickten und gestärkten Nachthemd der Frau. Sie ist so fanatisch religiös, dass sie zwar das «wachset und mehret euch» durchaus verstanden hat, aber trotzdem Nacktheit als Sünde interpretiert. Schliesslich wurden die beiden Nackten, Adam und Eva, nicht umsonst aus dem Paradies vertrieben.
Empörung, Emanzipation oder Elend
Ganz so extrem sind wir 2022 zu mindest in diesem Teil der Welt nicht mehr unterwegs. Aber so offen, wie wir uns geben, sind wir zum Grossteil dann eben doch nicht. Klar, Nacktsein kann demütigend sein – bei Folterungen müssen sich Opfer oft ausziehen, um genau diesen Effekt herbeizu rufen. Andererseits kann Nacktheit genauso etwas Befreiendes haben – die Freikörperkultur, die 68er, die radikalen Frauenrechtsaktivistinnen Femen – sie alle wollen sich über den nackten Körper von gesellschaftlichen Normen verabschieden oder Missstände anprangern. Trotzdem ist Nacktheit nie konfliktfrei. Und sei es nur der eigene innere Konflikt.
Warum das Gegenüber eine Rolle spielt
Es gibt da gewisse Personengruppen, vor denen will ich mich persönlich – bei aller Liebe und aller Offenheit – auf keinen Fall nackt zeigen, weder im direkten noch im übertragenen Sinn. Schliesslich hat man ein Gesicht zu wahren. Da müssen nicht alle alles voneinander wissen. Meistens sind das Leute, die du zwar kennst, aber nicht gut genug, um ihnen das nötige Vertrauen entgegenbringen zu können. Und natürlich gehören auch jene dazu, die man aus einem mehr oder weniger professionellen Kontext kennt. Wohl die wenigsten würden mit ihren Kolleg*innen oder den Vorgesetzten gerne mal eine Sauna aufsuchen. Schon allein der Gedanke kann einem die Nackenhaare aufstellen. Hingegen ist es bei Wildfremden wiederum gar kein Ding. Aber wieso eigentlich? War um haben wir bei einigen kein Problem damit, alles von uns zu zeigen, während das vor anderen Per sonen ungute Gefühle in uns auslöst?
Das ist wohl ein bisschen wie bei Psycho therapien mit der eigenen Lebensgeschichte, den ureigensten Gefühlen und Gedanken. Entblösst man sich vor Fremden, egal ob emotional oder physisch, muss es einen nicht scheren, was diese Personen über einen denken. Lästern werden sie auch nicht können, zumindest nicht in dem Um feld, in dem man sich bewegt. Schwieriger wird es, sobald eine Verbindung zu meiner Umwelt be steht, sobald ich mir Gedanken mache, was andere über mich denken. Bei jenen Menschen, denen wir unser Vertrauen schenken, stellt sich diese Frage nicht, aber bei allen dazwischen schon.
Schön warm und entspannt bleiben!
Gerade als Frau fragt man sich dann na türlich oft: Ist das schon das berühmtberüchtigte BodyShaming, das Heidi Klum mir eingetrichtert hat, oder einfach nur Instinkt? Und wie so oft ist es wohl irgendwas dazwischen. Vielleicht wäre hier ein bisschen mehr ‹Wurschtigkeit› angebracht, die macht einem das Leben meistens leichter. Und letzten Endes, ganz ehrlich: Die Menschheit kann auch dankbar sein, Kleidung zu haben. Ziemlich kalt wäre es ohne, und objektiv betrachtet, besonders hübsch ist der nackte menschliche Körper nun auch nicht. Tiere haben Fell, Menschen Kleider.
Julia Kamml, 32, geht gern in die Sauna und wunderte sich lange, wie die Finn*innen das händeln – die treffen sich dort sogar für geschäftliche Meetings. Während der Recherche hat sich aber herausgestellt, dass in Finnland die Sauna fast immer nach Geschlechtern getrennt ist. Fragt sich nur, wie zuträglich das wiederum für die weibliche Karriere ist.